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Wenn Fragen plagen

Fragekultur im Unterricht

Schülerinnen bei der Gruppenarbeit (Symbolbild). Bild von Freepik. Schülerinnen bei der Gruppenarbeit (Symbolbild). Bild von Freepik.
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Unterricht und Schule

Fragen im Unterricht – das ist für Schüler*innen ebenso wie für Lehrkräfte nicht selten ein schwieriges Thema. Dabei sind Fragen für den Lernprozeß und die Problemlösefähigkeiten der Schüler*innen von zentraler Bedeutung. Dafür braucht es aber eine gute Fragekultur im Unterricht.

 

(ps) Fragen von Schüler*innen gehören zu den wichtigsten Werkzeugen des Lernens. Sie zeigen nicht nur Neugier, sondern auch Auseinandersetzung mit Inhalten, sie offenbaren Verständnisprobleme und motivieren zum Weiterdenken. Nicht zuletzt sind sie auch ein Werkzeug zur Problemanalyse und zur Problemlösung, dessen Nutzung trainiert werden will. Doch in der Unterrichtspraxis wird das Potenzial von Schülerfragen häufig nicht ausgeschöpft. Statistiken deuten darauf hin, dass Schüler*innen im klassischen Unterricht durchschnittlich weniger als eine Frage pro Unterrichtsstunde stellen.


Die Gründe dafür können vielfältig sein. Das kann zum einen an der individuellen Schüler*in liegen, zum anderen an den sozialen Beziehungen, wie die Münsteraner Bildungswissenschaftlerin Dr. Carolin Krüll mit Blick auf die mündliche Beteiligung insgesamt ausführt: „Einige sind eher introvertiert oder ängstlich, manche haben sprachliche Probleme oder brauchen länger, um eine Antwort zu formulieren. Auch kann die Beziehung zur Lehrkraft oder den anderen Schülern schlecht sein, sodass sich die Schüler nicht in der Klasse äußern wollen.“


Mit Blick auf die Fragekultur kommt dann noch hinzu, wie die Lehrkraft den Unterricht leitet, welche Räume sie Fragen bietet, wie sie mit ihnen umgeht und wie sie bewertet werden.

 

Schülerfragen


Bereits vor 20 Jahren stellten Jürgen Seifried und Detlef Sembill, heute Professoren an der Uni Mannheim resp. der Uni Bamberg, fest, dass Schülerfragen „ein brachliegendes didaktisches Feld“ seien. So ginge es wenn, dann meist um die Lehrerfragen als pädagogisch-didaktisches Instrument, aber nur selten um die Fragen der Schüler*innen. Dabei gebe es „Hinweise darauf, dass Schülerfragen bei der Konstituierung von Wissen und der Entwicklung von Problemlösefähigkeit von zentraler Bedeutung sind,“ so Seifried und Sembill.


In ihrer Untersuchung zeigten „sich positive Beziehungen zwischen der lerninhaltsorientierten Frageaktivität im Unterricht und der Lernmotivation sowie der Lernleistung“. Besonders bemerkenswert ist ferner die Erkenntnis, dass Schüler*innen „auch von nicht
unmittelbar auf Lernziele hin ausgerichteten Fragen“ zu profitieren scheinen, „die somit eine nicht
zu unterschätzende, stabilisierende Funktion im Lernprozess einnehmen.“


Trotz dieser durchaus interessanten Ergebnisse ist das Feld seither nicht übermäßig beackert worden und liegt weitgehend immer noch brach. Was stattdessen als zusätzliches Problem hinzugekommen ist, sind die sozialen Medien und eine mit ihnen einhergehende Veränderung der Fragekultur. Die jungen Generationen sind es quasi von Kindesbeinen an gewöhnt, auf „öffentliche“ Äußerungen unmittelbares Feedback zu erhalten – seien es Likes, Emojis oder Textantworten. Dieser Gratifikationsmechanismus schlägt sich heute auch in den Schulen nieder und wird bis ins Arbeitsleben hinein fortgeführt. So wird die GenZ von Personalern regelmäßig als betreuungsintensiv und auf der Suche nach kontinuierlichem Feedback beschrieben.


Solche Feedback-Fragen dienen weniger der inhaltlichen Vertiefung als vielmehr der Absicherung. Sie entstehen nicht nur dort, wo Schüler*innen sich überfordert fühlen, nicht wissen, was genau gefordert wird oder wenig Erfahrung mit eigenständigem Problemlösen haben. Oft fehlt den Schüler*innen auch einfach die Fähigkeit, ihre eigenen Leistungen intern zu bewerten und sie benötigen das Feedback von außen. Auch wenn solche Feedback-Fragen durchaus ernst zu nehmen sind, braucht es pädagogische Strategien, um sie in produktive Bahnen zu lenken – denn eine reine „Feedbackbedürfnisflut“ kann andere Lernende überfordern oder blockieren. Zudem haben die Fragenden damit nichts gewonnen und machen sich, wie eben erwähnt, später im Berufsleben selbst Probleme.


Bedingungen für gute Schülerfragen


Eine zentrale Erkenntnis aus der Forschung ist, dass die Qualität und Quantität von Schülerfragen stark vom sozialen Klima und der Unterrichtsform abhängt. In lehrkräftezentrierten Settings bleibt der Raum für eigene Fragen meist eher begrenzt. Schüler*innen fühlen sich nicht ermutigt, Fragen zu stellen – oder glauben, sie müssten bereits alles verstanden haben, um „gute“ Fragen formulieren zu können. Besonders im Frontalunterricht zeigt sich ein Rückgang von Schülerfragen; nicht selten liegt dort die durchschnittliche Anzahl unter einer Frage pro Schüler*in und Stunde. Die Gründe hierfür sind vielfältig: soziale Ängste, mangelndes Vertrauen in die eigene Urteilskraft, ein zu dominantes Lehrkräfteverhalten oder einfach das Fehlen von Strukturen, die zum Fragen einladen.


Um die Schüler*innen am mündlichen Geschehen dauerhaft zu beteiligen und insbesondere eine Fragekultur zu entwickeln, raten Seifried und Sembill zu regelmäßigen Unterrichtsmodulen mit Gruppenarbeiten: „In einer selbstorganisationsoffenen Lernumgebung stellen Schüler 32-mal so viele Fragen wie im traditionellen Unterricht“ – hier belaufe sich der „Anteil der Lehrerfragen […] auf 8 % gegenüber 87 % im traditionellen Frontalunterricht“. Um hier „Trittbrettfahrer“ zu verhindern, die sich also quasi in der Lerngruppe verstecken, werden „obligatorische Präsentationen der Arbeitsergebnisse“ vorgeschlagen, sowie „wechselseitige Übernahme von Verantwortungsbereichen (z. B. Gruppenleitung, Gruppensprecher, Dokumentation der Arbeitsergebnisse) [der] einzelnen Schüler“.


Die Gestaltung des Unterrichts spielt also eine zentrale Rolle bei der Förderung einer produktiven Fragekultur. Offene Lernformen wie Gruppenarbeiten, Projektarbeit oder selbstorganisierte Lernphasen bieten deutlich mehr Raum für Fragen. Schüler*innen muss dabei vermittelt werden, dass Fragen kein Zeichen von Schwäche, sondern von Engagement und Denkleistung sind. Dazu gehört auch, dass die Lehrkraft aktiv mit gutem Beispiel vorangeht, selbst Fragen stellt, Unklarheiten thematisiert oder auch einmal zugibt, etwas nicht zu wissen. Gerade diese Offenheit kann die emotionale Sicherheit stärken – eine Voraussetzung dafür, dass Schüler*innen sich trauen, ihre eigenen Gedanken einzubringen.


Gleichzeitig gilt es, Schüler*innen beim Aufbau ihrer Fragekompetenz zu unterstützen. Denn nicht alle Fragen sind automatisch produktiv oder erkenntnisfördernd – und nicht jede*r Schüler*in weiß, wie eine gute Frage eigentlich aussieht. Hier kann gezieltes Training helfen: Die Vermittlung unterschiedlicher Fragetypen, das gemeinsame Analysieren von Schülerfragen oder das bewusste Nachdenken darüber, was man (noch) nicht verstanden hat, sind erste Schritte hin zu einer reflektierten Fragehaltung. Auch Methoden wie das „Think-Pair-Share“, bei dem Schüler*innen zunächst allein über eine Frage nachdenken, sich dann mit einem Partner austauschen und schließlich die Ergebnisse im Plenum vorstellen, fördern gezielt die Fragekompetenz.


Die Crux der mündlichen Note


Ein grundlegendes Problem ist zudem, dass es eine mündliche Note gibt – das ist möglicherweise die größte Hürde für einen offenen Unterrichtsdialog. Denn dies kann die Schüler*innen leicht zu der Haltung bringen, lieber nichts zu sagen als etwas falsches, lieber nichts zu fragen als etwas „doofes“. Auch Carolin Krüll betont, dass die „ständige Bewertung der mündlichen Mitarbeit“ für die Schüler*innen „zu einer permanenten Leistungssituation, in der das Fehlermachen vermieden wird,“ führe. „Dadurch finden reine Lernsituationen de facto nicht statt“, sagt sie.


Doch das Problem sei noch grundlegender: da es kaum offizielle Richtlinien zur Bewertung mündlicher Noten gebe, herrsche hier sozusagen Wildwuchs: viele Schulen geben schulinterne Hinweise zum Thema aus, die jedoch stark in ihrer Qualität schwanken. Am Ende des Tages stehen die Lehrkräfte in der Regel mit der Aufgabe alleine da – und gar nicht so wenige versuchen gar nicht erst, objektive, vergleichbare Noten zu geben: „22 Prozent der Lehrer gaben an, die Note ,nach Gefühl’ oder ,aus dem Bauch heraus’ zu bilden,“ sagt Krüll über ihre Stichproben-Untersuchung zum Thema mit 272 teilnehmenden Lehrkräften.


Dabei sei Transparenz hier besonders wichtig: „Gerade weil kaum schulrechtliche oder allgemeingültige Vorgaben zu Bewertungskriterien mündlicher Mitarbeit existieren, ist die Transparenz zwischen dem Lehrer und den Schülern eines der wichtigsten Kriterien für eine faire Bewertung,“ so Krüll. „Nur wenn Lehrkräfte bekannt geben, nach welchen Maßstäben sie bewerten, und sie die Schüler konsequent in das Verfahren der Leistungsbewertung einbinden, schaffen sie Vertrauen und stärken das Gerechtigkeitsempfinden der Schüler. Dadurch können wiederum Anreize gesetzt werden, dass Schüler eher bereit sind, sich am Unterricht mündlich zu beteiligen.“


Hier kommt erneut die mündliche Note ins Spiel: Mit zur Fragekultur im Unterricht zählt auch der Zusammenhang zwischen mündlicher Note und Schülerfragen. Während (abgefragte) Schüleraussagen natürlich den üblichen Bewertungen hinsichtlich der Qualität unterliegen, sollte dies für Fragen nicht in gleichem Maße gelten – selbst dann, wenn die Frage z.B. offenbart, dass der*die Schüler*in einfach in der letzten Unterrichtsstunde nicht aufgepasst hat. Dies sollte auch bei der Offenlegung der Bewertungsmaßstäbe für die mündlichen Noten unbedingt explizit gemacht werden: es empfieht sich der Grundsatz, dass Fragen im Unterricht nur positiv, aber nicht negativ auf die mündliche Note wirken können (sofern sie nicht erkennbar zur Sabotage eingesetzt werden). Ist die Frage klug schlägt sie sich als Plus nieder, ist sie es nicht bekommt man aber kein Minus.


Das ist nicht nur die einzige Chance, um Schüler*innen einen a priori angstfreien Zugang zu Unterrichtsfragen zu ermöglichen. Es ist zudem eine Chance, um die Schüler*innen zu motivieren, an ihrer eigenen Fragekompetenz zu arbeiten.


Fragekultur ist Vertrauens- und Übungssache


Wie alles braucht auch eine gute Fragekultur Zeit. Sie entsteht nicht über Nacht – sie ist das Ergebnis eines langfristigen Prozesses, in dem Vertrauen wächst, Routinen entstehen und Schüler*innen lernen, sich selbst und ihre Gedanken ernstzunehmen. Lehrkräfte können diesen Prozess begleiten, indem sie Raum geben, ermutigen, strukturieren – aber auch klare Grenzen setzen.

Zudem braucht das Training von Selbstevaluation, also quasi Selbst-Feedback, heute mehr Raum denn je. Das kann auch außerhalb des klassischen Unterrichts passieren, beispielsweise damit, den Schüler*innen mündliche Noten nicht einfach mitzuteilen, sondern sie zuvor aufzufordern (ggf. in Einzelgesprächen), die eigene mündliche Leistung selbst zu bewerten und zu begründen.

Schülerfragen sind ein wertvoller Indikator für Lernprozesse, aber auch ein Spiegel des Unterrichtsklimas. Lehrkräfte, die diese Fragen fördern und in sinnvolle Bahnen lenken, schaffen nicht nur aktivierende, sondern auch partizipative Lernumgebungen. Denn wer fragt, denkt – und wer denkt, lernt nachhaltig.

 

 

Quellen:


Bundeszentrale für politische Bildung: „Think-Pair-Share“, o.A., 22.04.2013; online: www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/partizipation-vor-ort/155251/think-pair-share/

Uni Münster: „Die Schüler sind in einer permanenten Leistungssituation“ – Interview mit Dr. Carolin Krüll, 25.08.2023; online: www.uni-muenster.de/news/view.php

Wirtschaftswoche: „Zwei Drittel der Entscheider hält die Gen Z für nicht kritikfähig“, Svenja Gelowicz, 19.09.2022; online: www.wiwo.de/erfolg/management/exklusive-umfrage-zwei-drittel-der-entscheider-haelt-die-gen-z-fuer-nicht-kritikfaehig/28683746.html

Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik 101 (2005), 2, S. 229-245: „Schülerfragen -
ein brachliegendes didaktisches Feld“, Jürgen Seifried, Detlef Sembill; online: d-nb.info/1114144223/34

 

 

15.09.2025