vocatium Magazin / Wissenschaft und Politik / Funktionaler Analphabetismus in Deutschland

Funktionaler Analphabetismus in Deutschland

Eine Gefahr für die Demokratie?

Junge Frau hinter einem Buch (Symbolbild). Bild von Freepik. Junge Frau hinter einem Buch (Symbolbild). Bild von Freepik.
Beitrag teilen
Wissenschaft und Politik

Lesen und Schreiben gehören zu den Grundvoraussetzungen, um erfolgreich am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Doch die Menschen tun sich damit in Zeiten, in denen Smartphones die Bücher ersetzen, zunehmend schwer.

 

(ps) Das selbsternannte „Land der Dichter und Denker“ hat ein Problem – wir verlernen zunehmend das Lesen und Schreiben. Schon seit Jahren zeichnen sich in Studien und Bildungsberichten besorgniserregende Entwicklungen ab: Die Lesekompetenz von Schüler*innen wird kontinuierlich schlechter, ebenso die (Recht-)Schreibkompetenz. In der Gesamtbevölkerung hält sich zudem ein nicht geringer Anteil an vollen oder teilweisen Analphabeten, der, je nach Bewertungsgrundlage, zwischen 12 und 20 Prozent liegt.


Analphabetismus in Deutschland?


In einem immer noch wohlhabenden Industrieland wie Deutschland, in dem es bekanntlich auch eine Schulpflicht gibt, mag das Vorliegen von Analphabetismus zunächst überraschen. Doch das Problem ist keineswegs neu: schon in den 1970er Jahren kam eine erste große Analphabetismusdebatte auf, die damals vor allem mit dem Unglauben in Politik und Gesellschaft zu kämpfen hatte. Eben weil es die Schulpflich gibt – aber keine systematischen Erhebungen zur Frage – war es kaum vorstellbar, dass ein nennenswerter Teil der Bevölkerung an der Alphabetisierung in der Schule scheitern sollte.


Die Erkenntnisverweigerung der 70er Jahre hat sich inzwischen gelegt, doch trotz politischer Maßnahmen wie der „Nationalen Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung“ (2016-2026) ist das Grundproblem weiterhin virulent. Der Bremer Professor für Sprach- und Literaturdidaktik, Sven Nickel, betonte schon 2014: „Dass Illiteralität ein drängendes gesellschaftliches Problem ist, das struktureller Lösungen bedarf, dringt jedoch erst seit wenigen Jahren und nur allmählich in das Bewusstsein von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.“ Ein Befund, an dem sich seither nur marginal etwas geändert hat.


Analphabetenquote


Zur Analphabetenquote in Deutschland gibt es keine amtlichen Statistiken, verschiedene nationale und internationale wissenschaftliche Untersuchungen füllen jedoch diese Lücke. Dabei werden allerdings auch unterschiedliche Definitionen von Analphabetismus und dessen Abstufungen genutzt. Im Allgemeinen spricht man von „primären“ oder „totalen“ Analphabetismus, wenn keinerlei Fähigkeiten, Schrift zu lesen oder zu schreiben vorliegen, von „sekundärem“ Analphabetismus, wenn diese Fähigkeiten nach der Schule wieder verlernt wurden, sowie von „funktionalem“ Analphabetismus. Funktionale Analphabet*innen können einzelne Wörter oder kurze Sätze zwar entziffern, sind jedoch nicht in der Lage, zusammenhängende Texte zu verstehen oder schriftliche Informationen im Alltag zuverlässig zu nutzen – sei es beim Ausfüllen eines Formulars, Lesen eines Beipackzettels oder beim Verstehen einer Arbeitsanweisung.


Eine große Studienreihe zum Thema ist die „LEO-Studie“ der Universität Hamburg. Hier wurden 2010 und 2018 Erhebungen mit über 7.000 bzw. über 6.600 Teilnehmenden im Alter von 16-65 Jahren durchgeführt – eine Datengrundlage, welche die Anforderungen für eine konventionelle „repräsentative Umfrage“ also um das 6- bis 7-fache übersteigt. Die Teilnehmenden mussten im Rahmen der Untersuchung u.a. eine Reihe von Sprachverständnisfragen beantworten, die zum Teil mit lebensnahen Bildern aus dem Alltag (bspw. ein Verkehrsschild mit Text) operieren.


Hier zeigt sich, dass es in den letzten Jahren offenbar nicht gelungen ist, einen nennenswerte Zahl der totalen Analphabet*innen zu erreichen: sowohl 2010, als auch 2018 kommen die Forscher*innen unverändert auf 4 Prozent der Gesamtbevölkerung – etwa 2 Millionen Menschen –, die nicht lesen und schreiben können. Bei den funktionalen Analphabet*innen ist laut LEO-Studie jedoch ein gewisser Rückgang festzustellen. So seien 2018 etwa 12,1 Prozent oder 6,2 Millionen Erwachsene funktionale Analphabet*innen, 2010 waren es noch 14,5 oder 7,5 Millionen Erwachsene.


Die OECD hat ebenfalls Untersuchungen zum Thema angestrengt: die PIAAC-Studie hat, als Teilthema, Analphabetismus 2012 und 2023 mit je um die 5.000 Teilnehmenden (16-65 Jahre alt) adressiert. Hier kamen die Forschenden zu noch schlechteren Ergebnissen: so waren 2012 etwa 9,4 Millionen Erwachsene funktionale Analphabeten, 2023 waren es 10,6 Millionen. Dies sei zwar, obwohl es ein Anstieg um 1,2 Millionen darstellt, laut den Forschenden „statistisch nicht signifikant“, stellt aber dennoch zumindest eine Stagnation mit erkennbarem Negativtrend dar. 10,6 Millionen funktionale Analphabet*innen entspricht 20 Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Ein Ergebnis, mit dem Deutschland mithin auch unter dem OECD-Durchschnitt liegt.


Die Differenz zwischen den Zahlen von LEO und PIAAC begründen die Forscher*innen von LEO in einer Studienvergleichsübersicht damit, dass die zu lösenden Aufgaben bei PIAAC anspruchvoller gewesen seien als bei LEO. Für den Aufwärtstrend 2023, auch im Vergleich zu den Werten von LEO 2018, werden Krisen wie die Corona-Pandemie ins Feld geführt, die ja nicht zuletzt bei den Schulen zu großen Problemen führte.


Dennoch gebe es Grund zum Optimismus – die an der LEO-Studie beteiligte Bildungsforscherin Prof. Anke Grotlüschen betont gegenüber der ARD, dass insgesamt sinnvoll in Bildung und Erwachsenenbildung investiert worden sei. Vor diesem Hintergrund könne man sehen, „dass es in Deutschland trotz hoher Zuwanderung offensichtlich besser gelungen ist, die Stabilität zu halten, als im Vergleich zu Österreich.“


Partizipation und Populismus


Grotlüschen weist jedoch auch noch auf andere, vielleicht nicht auf den ersten Blick offensichtliche Zusammenhänge hin: so habe die Illiteralität eben auch zur Folge, dass die Betroffenen schlecht am gesellschaftlichen und politischen Diskurs partizipieren können. So hätten funktionale Analphabet*innen „häufig das Gefühl verloren, sich am politischen Prozess beteiligen zu können.“ Das geht bei alltäglichen Dingen wie dem Kontakt zu Ämtern und Behörden los: „Wir haben gefragt: Wie ist es denn beim Amt? In der Behörde, wenn ihr widersprechen müsst? Das traut man sich dann auch nicht zu“, berichtet Grotlüschen.


Noch schwerwiegender ist aber die Frage der politischen Partizipation: „Wir haben gefragt: Traut man sich zu, mitreden zu können, wenn es um Politik geht? Und das mögen Menschen nicht, die nicht gut literalisiert sind“, so Grotlüschen weiter.


Wer aber nicht zuverlässig in der Lage ist, sich politische Inhalte zu erarbeiten, Parteiprogramme zu lesen, Faktenchecks zu checken, Nachrichten über politische Vorgänge zu lesen, der oder die ist den Parolen, der Propaganda, den Behauptungen der Populist*innen mehr oder weniger hilflos ausgeliefert. Es gibt zwar in Zeiten von Social Media auch zahlreiche videobasierte Informationsangebote, die teilweise von guter Qualität sind – aber auch da muss man erstmal hinkommen, müsste die richtigen Wörter in die Suchleiste eingeben, müsste die Titel der z.B. Youtube-Videos lesen und verstehen, usw. Und wenn man dann wissen will, ob der oder die Kommentator*in glaubwürdig ist, müsste man ebenfalls im Netz suchen und lesen. Kurz: für Analphabet*innen gibt es, selbst wenn sich sich qua verbaler Angebote informieren wollen, kontinuierliche „Schrift-Hürden“, die den Zugang erschweren und viele von vornherein abschreckt.


Ein Problem mit populistischen Botschaften ist, dass sie zumeist kurz und einfach sind und klare Antworten, klare Feindbilder liefern – die Welt aber meist sehr viel komplexer ist. Ein gutes Beispiel ist hier der Diskurs über den Analphabetismus selber. Im „Faktenfinder“ der Tagesschau wird beispielsweise darauf aufmerksam gemacht, dass von Rechtspopulisten gerne Migrant*innen für die Analphabetismuszahlen verantwortlich gemacht werden – und damit eine ausländerfeindliche Narrative bedient wird. Die zum Thema befragte Anke Grotlüschen wies darauf hin, dass bei den LEO-Studien „bevölkerungsrepräsentative Haushaltserhebungen“ durchgeführt wurden – „Menschen in Unterkünften sind nicht erfasst – weder im Justizvollzug, der Pflege, in Einrichtungen für Behinderung noch Neuzuwanderung.“ Zudem werde nicht berücksichtigt, dass viele Migrant*innen in ihren Herkunftssprachen durchaus alphabetisiert seien können, für die also Deutsch einen „Zweitschrifterwerb“ darstellt und für die also die Alphabetisierung als solche nicht das Problem ist, sondern der Zweitspracherwerb selbst noch nicht abgeschlossen ist.


Unter Rechtspopulisten werden also „fehlinterpretierte“ Zahlen missbraucht, um Stimmung gegen Migration und Migrant*innen zu machen. Zugleich zeige sich jedoch, so Grotlüschen, dass „populistische Parteiprogramme“ dazu tendieren würden, „die Schwächeren allein zu lassen“, und weiter: „Das heißt, es wird Spaltung im Bildungssystem betrieben.“ Darunter würden aber am Ende alle leiden: „Populistisch regierte Länder wie Ungarn, Polen, Italien oder auch Israel und USA sind alles Länder, die deutliche Verluste in den Literalitätswerten haben“, also Anstiege der Analphabetismuszahlen. In Ungarn, Polen und Israel seien zudem die Mittel für Weiterbildung deutlich gekürzt worden. Dies könne man durchaus als Strategie interpretieren, betont Grotlüschen, die sich aus populistischer Sicht so darstelle: „Wir sorgen dafür, dass Menschen gering gebildet und einfache Leute sind, die uns das glauben müssen, was wir ihnen sagen – weil sie durch Lesen nicht zu einer anderen Meinung kommen können.“


Perspektiven


Es zeigt sich also, dass Alphabetisierung unmittelbare Auswirkungen auf den Zustand einer Demokratie haben kann. Derzeit sind die Zahlen zwar in Deutschland leidlich stabil, gesenkt wurden sie aber nicht. Das Thema sollte aus demokratischem Eigeninteresse nach der bald zu Ende gehenden Alphabetisierungs-Dekade auf keinen Fall vergessen werden. PIAAC-Studienleiterin Prof. Beatrice Rammstedt betonte in einem Interview mit der S.Z., dass es weiterhin nötig sei, „Möglichkeiten zu schaffen, damit die Personen mit geringen Kompetenzen dazulernen können“


Aber auch verstärkte Förderung an den Schulen bleibt wohl unausweichlich (und wird finanziert werden müssen). Denn in den Zahlen der Studien wurden Menschen ab 16 Jahren befragt. Wie aber eingangs erwähnt, gibt es zunehmende Probleme mit den Lese- und Schreibkompetenzen der Schüler*innen, die bereits in den Grundschulen beginnen. Und hier etwas zu tun, wird gar nicht einfach: Kinder wachsen heute in einer Umgebung auf, in der kurze, visuelle Inhalte dominieren: Videos, Emojis, Sprach- und Bildnachrichten ersetzen zunehmend das geschriebene Wort. Die Fähigkeit, sich mit längeren Texten auseinanderzusetzen, verliert dabei an Bedeutung. Lesekompetenz aber entwickelt sich durch Übung – wer kaum (noch) liest, wird im Verstehen komplexer Inhalte zunehmend unsicher.


Langfristig geht es nicht nur darum, das Lesen als technische Fähigkeit zu vermitteln, sondern auch als kulturelle Praxis zu bewahren. In einer Zeit, in der Informationen über Social Media ungefiltert auf Kinder einströmen, wird die Fähigkeit, Texte zu verstehen, einzuordnen und kritisch zu hinterfragen, zur Schlüsselkompetenz – nicht nur für schulischen Erfolg, sondern für gesellschaftliche Teilhabe und demokratisches Bewusstsein. Die zunehmende Leseschwäche bei Grundschüler*innen ist ein deutliches Warnsignal. Ohne gezielte Gegenmaßnahmen droht ein Anstieg des funktionalen Analphabetismus – mit weitreichenden Folgen für Bildung, Beruf und gesellschaftliche Integration. Nur so kann sichergestellt werden, dass Kinder von heute zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern von morgen heranwachsen.

 

 

Quellen:


ARD / Tagesschau: „Warum Analphabetismus die Demokratie gefährden kann“, Armin Himmelrath, 02.09.2025; online: www.tagesschau.de/wissen/forschung/studie-analphabetismus-demokratie-100.html

ARD / Tagesschau Faktenfinder: „Fehlinterpretierte Zahlen zu Analphabetismus“, Julia Kuttner, 13.09.2024; online: www.tagesschau.de/faktenfinder/analphabetismus-studie-104.html

bpb: „Weltalphabetisierungstag 2024“, o.A., 05.09.2024; online: www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/296238/weltalphabetisierungstag-2024/

bpb / APuZ: „Funktionaler Analphabetismus – Hintergründe eines aktuellen gesellschaftlichen Phänomens“, Sven Nickel, 19.02.2014; online: www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/179347/funktionaler-analphabetismus-hintergruende-eines-aktuellen-gesellschaftlichen-phaenomens/

Bundesministerium Forschung, Technologie und Raumfahrt: „Alphabetisierung und Grundbildung“, o.A., o.D.; online: www.bmftr.bund.de/DE/Bildung/Weiterbildung/AllgemeineWeiterbildung/Alphabetisierung/alphabetisierung_node.html

Deutscher Bundestag / Wissenschaftliche Dienste: „Einzelfragen zur Bemessung der Alphabetisierungsrate und des Analphabetismus in Deutschland, Europa und der Welt“, Dokumentation WD 8 - 3000 – 071/18; online: www.bundestag.de/resource/blob/571560/af3fde9a34fb72b7cdf5cf6443d82e22/wd-8-071-18-pdf-data.pdf

Deutscher Bundestag / Wissenschaftliche Dienste: „Verbreitung von Analphabetismus in Deutschland“, Dokumentation WD 8 - 3000 – 071/24; online: www.bundestag.de/resource/blob/1032734/WD-8-071-24-pdf.pdf

DLF: „Wozu noch Rechtschreibung?“, o.A., 16.03.2023; online: www.deutschlandfunk.de/rechtschreibung-immer-schlechter-100.html

DLF: „Viertklässler in Deutschland können immer schlechter lesen“, o.A., 17.05.2023; online: www.deutschlandfunk.de/iglu-studie-2021-lesekompetenz-kinder-100.html

S.Z.: „,Ob die Erstsprache Deutsch ist oder nicht, macht viel aus’“, Victoria Gebler, 13.12.2024; online: www.sueddeutsche.de/wissen/erwachsene-deutschland-schwaechen-grundkompetenzen-li.3165621 [Bezahlinhalt]

Universität Hamburg: „LEO PIAAC 2023 – Level One im deutschsprachigen Raum“, Anke Grotlüschen et al., 2025; online: www.fdr.uni-hamburg.de/record/17831

Universität Hamburg: „LEO 2018 – Leben mit geringer Literalität. Pressebroschüre“, Anke Grotlüschen et al., 2019; online: leo.blogs.uni-hamburg.de/wp-content/uploads/2022/09/LEO2018-Presseheft.pdf

24books: „Neue Studie: Ein Viertel aller Grundschüler kann nicht richtig lesen“, Sven Trautwein, 05.08.2024; online: www.24books.de/romane/vorlesen-schule-bildung-viertel-grundschueler-lesekompetenz-schlecht-iglu-studie-lesen-92285193.html

 

 

19.09.2025