Immer mehr Studierende scheitern an Lesekompetenz und Textverständnis. Ein Problem, das nicht erst seit gestern besteht.
(ps) An Deutschlands Hochschulen zeichnet sich eine besorgniserregende Entwicklung ab: Das Leseverständnis vieler Studierender nimmt kontinuierlich ab. Immer mehr Dozierende berichten davon, dass die Studierenden Schwierigkeiten haben, wissenschaftliche Texte zu erfassen, Argumentationen nachzuvollziehen oder zentrale Aussagen zu erkennen. Dieser Trend hat weitreichende Konsequenzen – nicht nur für den Studienerfolg, sondern auch für die gesellschaftliche Teilhabe und die Innovationskraft der kommenden Generationen.
Wer Texte nicht versteht, kann keine fundierten Hausarbeiten schreiben, keine theoretischen Inhalte nachvollziehen und keine differenzierte Position zu fachlichen Fragestellungen einnehmen. Die Folge ist eine zunehmende Oberflächlichkeit im Studium, Frustration bei den Studierenden und – im schlimmsten Fall – der Abbruch des Studiums.
Das Problem bahnt sich schon seit einigen Jahren an: schon 2013 klagte die Jura-Professorin Jantina Nord im Magazin „Spiegel“, dass die nachrückenden Studierenden merklich schlechtere Sprachkompetenzen aufweisen als früher. Um diesen Eindruck zu objektivieren, führte die Professorin Sprachkompetenztests mit ihren Studierenden durch. „Leider war das Ergebnis teils verheerend“, sagt Nord im Spiegel. Konjunktiv, der in juristischen Texten sehr relevant ist, wird von gerade mal der Hälfte der Studierenden beherrscht, es werden Subjekt oder Prädikat in Sätzen vergessen, hochsprachliche und fachsprachliche Vokabeln werden nicht verstanden und einiges mehr. Auch in anderen Fachbereichen sei dies zu beobachten. Insgesamt habe sie festgestellt, dass „drei Viertel der Erstsemester in unserem Test über mangelhafte Sprachkompetenzen verfügen.“
Das war, wie erwähnt, 2013. An der Lage verändert hat sich seither nichts, es ist vielmehr noch schlimmer geworden. 2024 machte eine Allensbach-Studie darauf aufmerksam, dass „der Anteil der Studierenden, die täglich in Büchern lesen, von 43 Prozent (2003) auf nur noch 17 Prozent (2024) gefallen“ sei, wie das Börsenblatt berichtet. Zudem sei die Zahl „derjenigen, die ein besonderes Interesse an Büchern haben“, von 56 auf 35 Prozent gesunken. Und erst jüngst warnte der renommierte Osnabrücker Leseforscher Christian Dawidowski im NDR, dass Studierende das Lesen verlernen würden. Stattdessen lasse man sich mit KI Texte zusammenfassen oder Literaturrecherchen erledigen.
Dabei geht es nicht nur um die Lesefähigkeit an sich oder um Vokabelverständnis. Es fehle vor allem auch an der Fähigkeit des sog. „deep reading“ – also die Fähigkeit, einen Text beim Lesen zu durchdringen, wesentliche Inhalte zu erkennen und zu merken, den Subtext zu verstehen, usw. Eine KI allerdings könne genau dies nicht. Das immer mehr Studierende auf KIs setzen, „wenn es um das Lesen und auch das Verfassen komplexer wissenschaftlicher Texte geht“, bereitet Dawidowski Sorgen: „Tiefergehende Gedanken“, so sagt er dem NDR, würden so nicht entstehen.
Das ist eine gravierende Beobachtung: kritisches Lesen, also die Fähigkeit, Argumentationslinien zu hinterfragen, Gegenpositionen zu entwickeln oder ideologische Prägungen zu erkennen, gehen damit zunehmend verloren. Statt einer reflektierten Auseinandersetzung mit Texten gibt es entweder blinde Zustimmung oder vorschnelle Ablehnung. Inhalte werden oft nicht mehr hinterfragt, sondern nur konsumiert – oder ignoriert. Dabei ist gerade in unserer digitalen Welt mit social media und fake news die Fähigkeit zum kritischen Denken und Hinterfragen wichtiger denn je. Denn wer Texte nicht versteht, ist anfälliger für Vereinfachungen, Manipulation und populistische Narrative. Leseverständnis ist nicht nur eine akademische Fähigkeit – es ist eine Voraussetzung für mündige Teilhabe an der Gesellschaft.
Bislang hat das Thema aber im allgemeinen Bildungsdiskurs noch nicht den Stellenwert, den es haben müsste. Aber ohne die Fähigkeit, Texte zu verstehen, verlieren wir nicht nur die Grundlage für akademisches Lernen, sondern auch einen zentralen Pfeiler unserer demokratischen Kultur. Leseverständnis ist mehr als das Entziffern von Buchstaben – es ist der Schlüssel zum Verstehen der Welt. Der Althistoriker Michael Sommer wird in der „Frankfurter Rundschau“ deutlich: „Mir fehlt die Fantasie, wie eine Demokratie damit klarkommen soll, wenn 80 Prozent keine Texte lesen können“, sagt er. Wenn er es wolle, so glaubt er, könne er seine Studierenden auch „zu fanatischen Nationalsozialisten machen – weil sie kaum Kritikfähigkeit haben“.
Mögliche Lösungen liegen eigentlich auf dem Tisch – nur werden sie nicht oder nur unzureichend umgesetzt. Auch an Schulen ist es logischerweise kein neues Phänomen, dass die Lesekompetenzen nachlassen. Dennoch sind bundesweit keine größeren Anstrengungen erkennbar, den Deutschunterricht zu stärken, auszubauen oder gar mehr Deutschlehrkräfte einzustellen. Mithin wurde die Rechtschreibreform in den 90ern nicht zuletzt damit begründet, dass die Schüler*innen zu viele Rechtschreibfehler machen. Anstatt also den Deutschunterricht zu stärken, hat man lieber die komplette Rechtschreibung – mehr schlecht als recht – reformiert. Da wundert es nicht, dass heute trotz der nicht neuen Problemlage stattdessen voll auf Digitalisierung gesetzt wird, die nachweislich schlechte Auswirkungen auf Konzentrationsfähigkeit und Text-/Leseverständnis hat.
Auch an den Universitäten werden verschiedene Formen von Lesetrainings diskutiert und vereinzelt auch schon umgesetzt. Einen Hemmschuh hat Prof. Nord schon 2013 identifiziert: „Viele Professoren haben Angst, man könnte schlecht über ihren Wissenschaftlertempel denken, wenn darin plötzlich Deutschunterricht stattfände.“ Zudem fühlen sich die Universitäten (noch) nicht eigentlich dafür zuständig, Fähigkeiten zu trainieren, die traditionell zu den impliziten Grundvoraussetzungen für die Aufnahme eines Studiums zählen. Langfristig wird daran jedoch kaum ein Weg vorbeiführen – es sei denn, die Universitäten führen im Bewerbungsprozess Sprachkompetenztests ein. Da offenbar nicht mehr darauf vertraut werden kann, dass selbst ein*e Muttersprachler*in hinreichend kompetent in diesem Gebiet ist, scheint dies nicht zuletzt auch mit Blick auf die steigenden Zahlen der Studienabbrecher*innen eine durchaus hilfreiche Lösung zu sein.
Nicht zuletzt ist Lesen als solches eine fördernswerte Kulturtechnik, da sie nicht nur inhärent wertvoll ist, sondern auch den Leser*innen hilft. Vielfältige Studien zeigen, dass regelmäßiges Lesen Stress reduziert, die Konzentration verbessert und sogar präventiv gegen Depressionen wirken kann. Das Eintauchen in Geschichten wirkt entspannend und schafft mentale Räume zur Reflexion. Didaktisch betrachtet fördert Lesen zentrale Kompetenzen wie Textverständnis, analytisches Denken und Sprachbewusstsein. Wer liest, erweitert nicht nur seinen Wortschatz, sondern schult auch die Fähigkeit, Informationen zu strukturieren, zwischen den Zeilen zu lesen und kritisch zu hinterfragen. Besonders das Lesen längerer, zusammenhängender Texte trainiert Geduld, Ausdauer und kognitive Tiefe – Fähigkeiten, die in einer von schnellem Konsum geprägten Welt zunehmend verloren gehen.
Quellen:
Börsenblatt: „Selbst Studierende der Literaturwissenschaft lesen weniger“, Red. Börsenblatt, 02.05.2025; online: www.boersenblatt.net/news/literaturszene/selbst-studierende-der-literaturwissenschaft-lesen-weniger-373487
Frankfurter Rundschau: „Professor besorgt wegen fataler Entwicklung unter Studierenden: „Die glauben zum Teil alles““, Bettina Menzel, 29.05.2025; online: www.fr.de/panorama/professor-besorgt-wegen-fataler-entwicklung-unter-studierenden-die-glauben-zum-teil-alles-93759054.html
NDR: „Forscher aus Osnabrück warnt: Studierende verlernen das Lesen“, o.A., 17.06.2025; online: www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/osnabrueck_emsland/forscher-aus-osnabrueck-warnt-studierende-verlernen-lesen,leseforscher-100.html
Spiegel Online: „Das Ergebnis war teils verheerend“, Jantina Nord im Interview, Julia Jung, 27.05.2013; online: www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/sprachkompetenz-von-jurastudenten-das-ergebnis-war-teils-verheerend-a-900387.html
24.06.2025